Anywheres und Somewheres – ist die Freiheit, in der wir beruflich leben, für jeden von uns zum Vorteil? Der britische Publizist David Goodhart hat sich diese Frage gestellt. Er ist zu dem Ergebnis gekommen, dass sich unsere Gesellschaft durch Globalisierung und Fortschritt in zwei Lager spaltet. In die Gewinner des Fortschritts und in die Verlierer, die immer weiter abrutschen. So ergeben sich auch im 21. Jahrhundert neue Gesellschaftsschichten, die mehr oder weniger Chancen bieten.
Anywheres und Somewheres: Wie unterscheiden sie sich?
David Goodhart hat die Bezeichnungen Anywheres und Somewheres geprägt. Übersetzen kann man sie mit „Nirgendwos“ und „Dagebliebene“. Die Anywheres sind laut Goodhart die Gewinner der neuen Arbeitswelt, dem technischen Fortschritts und der Globalisierung. Sie sind die, die sich den Fortschritt zunutze machen. Die gut ausgebildeten, mobilen Arbeiter, die nicht an einen Ort gebunden sind. Sie schaffen sich eine Identität durch ihre beruflichen Erfolge und definieren sich weniger über Orte oder Gruppen.
Die Somewheres hingegen sind die Arbeitnehmenden, die an einem Ort geblieben sind – nicht immer, weil sie das wollten. Für sie bedeutet Zuhause nicht gleich Heimat, häufig fühlen sie sich sogar fremd an ihrem Heimatort. Ihre Jobs erlauben es jedoch nicht, dass sie einfach einen Ortswechsel durchführen und ein neues Leben an anderer Stelle starten. Sie können mit technischem Fortschritt und Globalisierung wenig anfangen. Die Somewheres definieren sich weniger über beruflichen Erfolg als viel mehr über Sub-Gruppen, Nationen und traditionelle Werte.
Neue Gesellschaftsschichten im 21. Jahrhundert
Anywheres und Somewheres bilden die neuen Gesellschaftsschichten des 21. Jahrhunderts. Sie stehen für verschiedene Lebens- und Fühl-Weisen. Hier wird nicht nur das Stadt-Land-Gefälle tragend, dieser Konflikt ist tiefgreifender. Den meist gut ausgebildeten Globetrottern fällt es schwer, sich in die ortsgebundenen Somewheres hineinzuversetzen: Wenn man von Globalisierung und Fortschritt nicht profitiert, ist man selbst schuld, oder?
Stimmt nicht ganz, wenn man in gesellschaftlichen Systemen feststeckt, aus denen man schwer entkommt und nie etwas anderes gesehen hat. Natürlich gibt es immer Ausnahmen, die den Absprung schaffen, aber wo der Zugang fehlt, fällt Weiterentwicklung schwer. Anywheres sind laut Goodhart in Wohlstandsländern mit 15 bis 20 Prozent eine Minderheit. Trotzdem bestimmen sie den Diskurs und bauen ihren Vorsprung in der Wissensgesellschaft weiter aus.
Entscheidend für die soziale Differenz sind nicht nur Wohnort und Ausbildung, auch das Mindset spielt eine tragende Rolle. Anywheres sind von Gedanken an Freiheit, Weiterentwicklung und Vernetzung geprägt. Sie wollen etwas erschaffen, in die Welt tragen und sich dadurch definieren. Die Somewheres hingegen werden abgehängt, weil sie diesem Mindset „Ich kann alles schaffen“ nur schwierig folgen können. Für sie besteht die Arbeitswelt nicht aus vielfältigen, neuen Möglichkeiten. Gerade deshalb fühlt sich jeder weitere Schritt Richtung Wissensgesellschaft wie eine Demütigung für sie an.
Wie kam es zur Spaltung der Anywheres und Somewheres?
Wie bei jeder großen gesellschaftlichen Spaltung geschah diese nicht von heute auf morgen. Die Kluft zwischen Anywheres und Somewheres entstand Schritt für Schritt. Sie wurde lange durch die Freude über Fortschritt und der damit verbundenen neuen Arbeitswelt übersehen. Für die Anywheres, meist Personen aus höher gebildeten Berufen, gab es keinen anderen Weg, als in die Globalisierung und den technischen Fortschritt einzusteigen. Vernetzung wurde gleich gesetzt mit Relevanz. Wer vernetzt war, dem wurden leichter neue Türen geöffnet. Somewheres hingegen sind von der modernen Arbeitswelt weiter entfernt. Sie sind lokal gebunden und nutzen Vernetzung nicht zu ihrem Vorteil.
Durch die Pandemie wurde der Unterschied der Anywheres und Somewheres noch einmal verstärkt. Für die Anywhere-Berufe war es einfacher, sich online zu verknüpfen und ihre Arbeit in Gang zu halten. Viele Somewhere-Berufe wurden auf ein Minimum zurückgefahren und verloren an unmittelbarer Bedeutung.
Soziale Medien verstärken die Kluft zwischen den Gesellschaftsschichten des 21. Jahrhunderts. Anywheres und Somewheres stecken in ihrer Bubble und blicken nicht über den Tellerrand hinaus. Obwohl das Internet jede Möglichkeit bietet, sich auszutauschen und mehr Verständnis füreinander zu entwickeln, bleibt man doch unter Gleichgesinnten.
Anywheres und Somewheres in der neuen Arbeitswelt
Beruflich haben es die Somewheres heute schwierig. Durch die wissensbasierte Wirtschaft und durch den technischen Fortschritt finden sie schwierig passende Jobs. Der Sanduhren-förmige Arbeitsmarkt funktioniert für Hochgebildete gut, doch viele Arbeitsstellen im mittleren Bereich, die den Somewheres ihren Status verleihen, schwinden. Die Hochschulbildung wird vorangetrieben, während die Berufs- und Lehrlingsausbildung einen geringen Stellenwert einnimmt. Die Kluft der Anywheres und Somewheres wächst.
Doch kann man pauschal von Gewinnern und Verlierern sprechen?
In einer Zeit, in der unsere Gesellschaft in vielen Bereichen fortschreitet, kann man sich als Somewhere nicht für immer vor Neuerungen verschließen. Es braucht Maßnahmen, die auch Somewheres mit der modernen Arbeitswelt vertraut machen und ihnen neue Perspektiven aufzeigen. Dort, wo der Zugang möglich ist, muss eine Offenheit und ein Umdenken der Dagebliebenen für Globalisierung, Fortschritt und Vernetzung in der Arbeitswelt stattfinden.
Es ist wichtig, zu verstehen, dass auch das Mindset der einzelnen Gesellschaftsschichten eine große Rolle spielt. Anywheres haben einen ganz anderen Blick auf die Entwicklungen der Welt und des Arbeitsmarktes als Somewheres. Es geht stark darum, was einzelne Personen aus denen ihnen gebotenen Möglichkeiten machen. Anywheres zum Beispiel können sich trotz hoher Ausbildung vor Neuerungen verschließen und auf Traditionen setzen. Genauso sieht man, dass es bei den Somewheres Ausnahmen gibt, welche die Chancen des neuen Zeitalters nutzen und sich eine Unabhängigkeit erarbeiten. Pauschal kann man also nicht in Gewinner oder Verlierer einteilen. Das Mindset kann für jeden Türen öffnen oder schließen.