Ein Kommentar von Felix Nawroth, Gründer und CEO von JobSwop.io
So viel vornweg: ich bin mir der Sensibilität des Wortes Indianer durchaus bewusst. Doch auch ich bin mittlerweile über 30 Jahre alt und kann nichts für die Glaubenssätze, die mir im Laufe meines Lebens eingetrichtert wurden. Einem dieser Glaubenssätze bin ich vor über 20 Jahren das erste Mal begegnet, aber höre ihn heute öfter denn je: „Alle wollen Häuptling sein und niemand mehr Indianer“. Auffällig häufig höre ich diesen Satz im Zusammenhang mit der aktuellen Diskussion über den Fachkräftemangel und den damit verbundenen Sorgen vieler Unternehmen. Mittlerweile verstehe ich diesen Satz besser als damals und kann sagen: „Ja, richtig! Denn auch Indianer wollen Geld verdienen“.
Fachkräftemangel in Sachsen verschärft
So lautete am 27.01.2022 die Überschrift eines Artikels der Freien Presse. „In sächsischen Unternehmen hat die Anzahl der offenen Stellen einen Rekordwert erreicht.“, heißt es gleich im ersten Absatz. Man geht aktuell von etwa 100.000 offenen Stellen aus und rechnet bis zum Jahr 2035 mit einem Anstieg auf 300.000. Dabei bleibt derzeit etwa jede zweite ausgeschrieben Stelle länger als ein halbes Jahr unbesetzt.
Dabei ist es nahezu gleich, um welche Branche es sich handelt. Egal ob Industrie, Bau, Handel, Dienstleistungen oder Handwerk, die Probleme sind allgegenwärtig. Der am häufigsten genannte Grund für das Scheitern von Neueinstellung klingt dabei schon fast wie Satire: „Es gibt überhaupt keine Bewerbungen auf den angebotenen Job“.
Das ist zweifelsohne auch eine Folge der demografischen Veränderungen. Die Belegschaft wird immer älter und will natürlich auch irgendwann in den verdienten Ruhestand. Und wenn es immer weniger junge Menschen gibt, dann gibt es folglich auch weniger potenzielle Bewerbungen.
Der zweite, und aus meiner Sicht wesentlich bedeutendere Grund, sind unterschiedliche Lohn- und Gehaltsvorstellungen. Wir leben in einem Wandel vom Arbeitgebermarkt zum Arbeitnehmermarkt. Vielen Unternehmen ist dies jedoch noch völlig unklar. Sie glauben nach wie vor, dass sie sich ihre Mitarbeiter aus einem breiten Angebot aussuchen können, ohne wirklich etwas bieten zu müssen.
Sachsen Wirtschaftsminister fasst die Situation mit folgenden, deutlichen Worten zusammen: „Oftmals sind es dieselben Unternehmen, die schon heute einen hohen Fach- und Arbeitskräftebedarf haben und diesen lautstark beklagen, aber ihre Beschäftigten noch immer nicht so bezahlen, dass sie über die Runden kommen.“
Und dabei reden wir noch nicht mal über all die immer relevanter werdenden Aspekte der modernen Arbeitswelt. Die Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben, flexible Arbeit und persönliche Weiterentwicklung können erst zum persönlichen Thema werden, wenn wirtschaftliche und somit existenzielle Ängste abgebaut werden. Davon sind wir in Sachsen jedoch in weiten Teilen noch weit entfernt.
Sachsen – das Land der Geringverdiener
Am selben Tag, in derselben Zeitung, nur ein paar Seite weiter hinten lese ich folgende Überschrift: „Studie: 43,2 % der Erzgebirger sind Geringverdiener“. Wow, ging es nicht gerade noch darum, dass unsere Unternehmen händeringend nach Personal suchen? An dieser Stelle ein kurzes Kompliment an die Redaktion von Freie Presse. Mit der vorherigen Thematisierung des Fachkräftemangels kommt dieser Text erst so richtig zur Geltung.
Fast die Hälfte aller Erzgebirger verdienen weniger als 2284 € brutto im Monat. Das sind weniger als 1600 € raus, wie man so schön sagt. Dabei stehen die Frauen mit einem Anteil von 52,8 % noch deutlich schlechter da als die Männer mit einem Anteil von 38,8 %. Und um das ganze noch etwas einzuordnen, der Anteil an Geringverdienern liegt in allen „neuen Bundesländern“ bei knapp 30 %, in allen „alten Bundesländern“ zusammen bei 16,4 %. So viel zu den Zahlen und Tatsachen.
In diesem Zusammenhang spielt die bevorstehende Erhöhung des Mindestlohns auf 12 € natürlich eine wichtige Rolle. Und wie bereist bei der allgemeinen Einführung des Mindestlohns gibt es wieder warnende Stimmen vor massiven Konsequenzen. So heißt es von der sächsischen Industrie- und Handelskammer, dass unter Berücksichtigung der allgemein steigenden Kosten, eine kurzfristige Erhöhung des Mindestlohns zum Erreichen bzw. Überschreiten der Belastungsgrenze führt.
Doch was bedeuten eigentlich 12 € Mindestlohn? Klingt auf den ersten Blick ja eigentlich ganz vernünftig. Doch rechnet man das hoch auf eine durchschnittliche Vollzeitstelle, in Sachsen übrigens 40 Stunden pro Woche, ergibt das 1920 € brutto. An der Statistik ändert sich also recht wenig. Wer vorher Geringverdiener war, bleibt auch mit 12 € Mindestlohn Geringverdiener.
Irgendwie passt das nicht zusammen. Im Gesamtbild suchen sächsische Unternehmen händeringend nach neuem Personal, würden aber gleichzeitig eher ihre vorhandenen Mitarbeiter entlassen, als sie besser zu bezahlen? Wenn punktueller Stellenabbau die Konsequenz von besserer Bezahlung ist, dann hoffe ich, dass möglichst viele Indianer unter den tausenden, offenen Stellen einen besseren Häuptling finden.
Dabei spielt es keine Rolle, ob Hilfskraft, Fachkraft oder absoluter Experte, jeder möchte das Gefühl haben, für seine Arbeit gut bezahlt zu werden. Und wenn die Möglichkeiten dafür nicht gegeben sind, wird es über kurz oder lang zu Veränderungen kommen müssen.
Bleiben oder gehen – das ist hier die Frage
Diese Frage stellte sich für mich persönlich unmittelbar nach Abschluss meines Studiums. Nach unzähligen Bewerbungen erhielt ich die meisten Rückmeldungen und Einladungen zum Vorstellungsgespräch von Unternehmen aus den alten Bundesländern. Und so fuhr ich eine Zeit lang regelmäßig morgens Richtung München oder Stuttgart, um meinen Einstieg in das Berufsleben zu finden.
Während meine Bewerbungen im Umland meiner Heimat Chemnitz kaum für Resonanz sorgten, bekam ich aus „dem Westen“ Arbeitsverträge zugeschickt, ohne dass man mich je persönlich gesehen hatte. Ich bin geblieben, obwohl mir Unternehmen Einstiegsgehälter angeboten haben, welche ich zu Hause nach mehreren Jahren als Ingenieur mit regelmäßigen Anpassungen nicht erreichen konnte.
Natürlich kenne ich das Argument, dass der Lebensunterhalt in Sachsen einfach günstiger ist. Das macht es allerdings nicht wirklich besser und lässt sich sogar recht einfach entkräften. Die meisten Finanzexperten raten zur Aufteilung des monatlichen Einkommens nach dem 50/30/20-Prinzip. So ergibt sich folgendes Budget:
- 50 % Grundausgaben: Wohnen, Essen, Mobilität
- 30 % Persönliche Bedürfnisse: Hobby, Freizeit, Urlaub
- 20 % Sparen und Investieren: Rücklagen, Aktien, Immobilien
Diese Aufteilung mag zwar auch mit niedrigen Einkommen funktionieren, aber es wird sofort klar, dass der jeweilige Spielraum damit sehr schnell schwankt. Denn die Preise für Verbraucher sind immer gleich. Und so ergibt sich automatisch, ob beim Budget für Mobilität ein Opel oder ein BMW drin ist, ob es ein Urlaub auf dem Zeltplatz in der Uckermark oder in der Finca auf Mallorca wird und ob es für ein Sparbuch oder ein breites Aktienportfolio reicht.
Ich habe erst vor kurzem mit angesehen, wie ein Bekannter nach seinem Studium die Region verlassen hat. Mit Frau und Kind hat er kurzerhand seinen Lebensmittelpunkt nach Baden-Württemberg verlegt. Und ich kann es verstehen. Häuptling hin oder her, darum geht es nicht. Aber auch Indianer wollen Geld verdienen.